Achtsamkeit und Mitmenschen

Südkora ist für die Schweizer Künstlerin Anna Anderegg eine Quelle der Inspiration. Dort trifft sie auf eine Gesellschaft, die sich mit der digitalen Repräsentation des Körpers und dem Thema Schönheit identifiziert.

16 mins read

Sie ist Choreografin. Studierte Tanz in Bern, Montpellier und Berlin. Anna Andereggs Arbeiten werden an Festivals in Europa, Asien, Russland und den USA präsentiert. Sie konzentriert sich in ihrer Arbeit auf den Dialog zwischen dem menschlichen Körper und seinem urbanen/digitalen Lebensraum. Früher unter dem Label ASPHALT PILOTEN, heute unter ihrem Namen, bringt die Schweizer Choreografin Kunst in den Alltag und den öffentlichen Raum.

Anna, du bist Tänzerin, Performance-Künstlerin, Choreografin und auch Schauspielerin?

Ich habe schon bei Filmen mitgewirkt. Als Schauspielerin würde ich mich jedoch nicht definieren. Das sind mehr experimentelle Projekte, wie das «Designed by another Architect», ein Projekt unter der Leitung von Sara Kim, welches den ersten Preis am Seoul Dance Film Festival erhalten hat.

Dann trifft „moderne, audiovisuelle Philosophin“ eher auf dich zu? Warum hast du genau diese „Tanz–Performance Ausdrucksform“ gewählt?

Absolut. Mich fasziniert es Geschichten zu erzählen, Menschen zu berühren, ohne deren „Sprache“ sprechen zu müssen. Tanz als universelle Sprache, mit der ich Leute berühren kann. Auch eine Sprache, welche nicht jedem dieselbe Geschichte erzählt. Und dabei ohne sprachlich, oder kulturell festgesetzte Grenzen überschreiten zu müssen, Menschen aus verschiedenen Kulturen zu verbinden. Das finde ich sehr spannend beim Tanz.

Alone Together, Gwangju Biennale, South Korea. | Photo © by Photographer JooYoung Kim
Alone Together, Kunsthaus Pasquart, Switzerland. | Photo © by Photographer Swan Park
Alone Together, Kunsthaus Pasquart, Switzerland. | Photo © by Photographer Swan Park
Alone Together (Gwangju Biennale / South Korea)

Welchen Einfluss haben andere Kulturen und Räume auf dein künstlerisches Schaffen?

Bei «Alone Togehter» habe ich mit einem Team von Künstler*innen aus Europa und Südkorea gearbeitet. Dabei haben wir aus unterschiedlichen Kulturen männliche Posen, im Sinne der zum Teil absurden Idealvorstellungen oder Schönheitsbilder von Männern, [hier in Korea auch aus der Pop-Kultur, dem K-Pop oder Hip-Hop Bereich] einfliessen lassen. In der Performance habe ich zusammen mit fünf Tänzerinnen versucht diese Künstlichkeit, diese Idealvorstellung einer Realität, auf Frauenkörper zu spiegeln. Es geht darum das Digitale, überspitzt in die Realität zu übertragen. Es entstand ein vielschichtiges Werk, welches wir auch auf Film festgehalten haben.

Das Zusammenleben im physischen und digitalen Raum schwappt hier besonders offenkundig ineinander über.

Anna Anderegg

Was macht für dich eine Performance aus?

Bei einer Performance vermischen sich verschiedene Elemente, Ebenen. Dabei sind es die Momente, welche man gemeinsam erlebt, welche zählen.

Kommst du aus einer Künstlerfamilie?

Meine Mutter war Krankenschwester, mein Vater ist Opernsänger, somit bekam ich zwei ganz unterschiedliche Seiten mit auf den Weg. Ich wusste jedoch schon sehr früh, dass ich etwas im künstlerischen Bereich machen will. Es brauchte etwas Zeit, bis ich meinen Stil sowie meine Ausdrucksform gefunden habe.

Du bist wieder einmal in Südkorea. Kennengelernt habe ich dich 2021 anlässlich eines Auftrittes mit „Alone Together in der Schweizer Botschaft in Seoul. Kurz zuvor hattest du die Uraufführung mit diesem Stück an der Gwangju Biennale. Dich trifft man in letzter Zeit des Öfteren in Südkorea an. Wie kam es dazu?

2016 kam ich zum ersten Mal nach Seoul. Geplant war eigentlich nur ein Stop-over. Ich blieb jedoch zwei Wochen. Die Stadt hat mich derart fasziniert. In dieser Zeit habe ich Veranstalter*innen getroffen, welche meine Projekte bereits kannten – hauptsächlich aus dem Bereich Kunst im öffentlichen Raum. Diese haben mich dann später wieder nach Korea eingeladen.

Was macht die Faszination Südkoreas für dich aus?

Anfänglich fand ich den Reiz im Widerspruch des Kommerziellen und Traditionellen. Beziehungsweise, dass es diesen wie nicht gibt, oder so einfach nebeneinander besteht. Dieses Oszillierende, etwas, was weiter weg ist, anders als das, was ich aus Europa kenne. Spannend fand ich auch die Ästhetik.

Ich kam sehr schnell mit interessanten Künstler*innen in Kontakt. Darunter die Architektin Sara Kim von Diagonal Thoughts. Sie hatte auch das Bühnenbild für «Alone Together» entworfen. Ich habe in Projekten von ihr mitgewirkt und war die einzige Nicht-Koreanerin. Das waren sehr experimentelle Projekte rund um die Architektur, über die ich weitere spannende Menschen kennenlernte, wie z.B. der Filmemacher Swan Park. Diese Zusammenarbeit waren für mich grosse Quellen der Inspiration.

Anna, du hast in deiner jungen Karriere schon einige, die Gesellschaft hinterfragende Projekte konzipiert. Woher nimmst du deine Ideen?

Meine Inspiration finde ich in Räumen. Sei dies im öffentlichen Raum, im Stadtraum oder im Ausstellungsraum. Jedoch selten auf einer Bühne. Ich sehe die Bewegung immer im Zusammenhang mit dem Raum. Der Raum und wir als Gesellschaft, die den Raum zusammen gestaltet.

Ein kritischer Blick auf die Gesellschaft ist in meinen Augen etwas Hoffnungsvolles.

Anna Anderegg

Wie entsteht der kreative Prozess, was sind Auslöser?

Dichte, Digitalität, ein futuristisches Stadtbild, ganz besonders hier in Seoul, Südkorea. Das Zusammenleben im physischen und digitalen Raum schwappt hier besonders offenkundig ineinander über. Das Konzept für «Alone Together» habe ich nach einem Koreabesuch geschrieben. Da gab es viele Schlüsselelemente, zum Beispiel das Thema Dichte: In der U-Bahn, dicht gedrängt, starrten die meisten auf ihr Smartphone. Das war eine Offenbarung, dass der digitale Raum doch sehr gross ist im Vergleich zu den Treffen mit meinen koreanischen Freunden, welche meistens im öffentlichen Raum stattfinden aufgrund der sehr beengten Wohnverhältnissen.

Kommen wir nochmals zurück zur südkoreanischen Gesellschaft; was hat dich besonders überrascht, was irritiert?

Ich schätze sehr, wie der einzelne versucht den Blick auf das Gesamte zu richten und sich selbst nicht so in den Mittelpunkt stellt. Sich als Individuum nicht so wichtig zu nehmen, sprich sich als Teil der Gesellschaft zu sehen. Der Sinn für die Gemeinschaft fehlt mir in Europa, davon brauchen wir in Europa mehr.

Das Verpackungsdilemma hat mich schon sehr schockiert. Und jedes Mal wieder von Neuem, wenn ich nach Südkorea komme. Ist wahrscheinlich etwas schwierig, wenn ich dies so aufbringe; meine Beobachtungen auf eine Gesellschaft, welche erst in der jungen Gegenwart zu Wohlstand gekommen ist und einiges nun auch ausleben will.

Bist du ein positiver Mensch oder eher gesellschaftskritisch?

Ich bin von Natur aus ein sehr positiver Mensch. Inspirationen aus Werbung, Instagram, versuche ich mit meinem Humor für die Realität zu kombinieren. Meine Arbeiten sind teils sehr minimalistisch, manchmal wirken sie auch etwas dystopisch auf den Betrachter. Ein kritischer Blick auf die Gesellschaft ist in meinen Augen etwas Hoffnungsvolles. Es gehört für mich dazu und gibt mir Hoffnung, da ja alles im Fluss ist.

Inwiefern haben diese Projekte dich als Person verändert?

Dadurch, dass ich viel Inspiration aus dem „Alltag“ schöpfe, bin ich sehr achtsam, was um mich herum geschieht. Diese kleinen Alltags-Choreografien, die kontextspezifisch sind. Zum Beispiel achte ich, wer zuerst den Liftknopf betätigt oder ähnliches. In Korea gibt es andere Bewegungsabläufe im Lift, als in Europa – diese Codes – in den Kulturen interessieren mich sehr. Oder Dinge, die mir überall begegnen, wie die Frage der Abwesenheit „wieso sind so viele Menschen abwesend?“ Das interessiert mich, weil im Raum, im Hier und Jetzt treffen wir uns, begegnen wir unseren Mitmenschen.

Wie wählst du die Schauplätze für deine Projekte aus?

Das ist von Projekt zu Projekt sehr unterschiedlich. Manchmal ist es eine Auftragsarbeit für ein Museum. In diesem Fall findet die Umsetzung einmalig statt. Dann gibt es andere Arbeiten, welche an eine andere Raumkonzeption adaptierbar sind. Beim Projekt «Silver Boom» arbeite ich in einem Stadtraum und mit den dort lebenden, erfahrenen Frauen. Dabei suche ich in den Platz, die etwas intimere Strasse oder wie bei «Tape Riot», wo es ums Aufbrechen geht, die Plätze im Sinne eines Parcours aus.

Silver Boom, ØIT/NO. | Photo © by Photographer Anna Anderegg
TAPE RIOT, Stadttheater Biel, Switzerland. | Photo © by Photographer Anna Anderegg

Du bist seit gut 13 Jahren in diesem Beruf unterwegs und kannst davon leben?

Ich denke, ich konnte relative schnell davon leben, nichtsdestotrotz ist es eine „Büetz“ – ein hartes Pflaster. Meine Arbeit ist nicht einfach zu kategorisieren. Dies hat Vor- und Nachteile. Sie fällt zwischen die typischen Genres, wie Tanz oder visuelle Kunst. Auf der anderen Seite gibt es auch sehr viel Anknüpfungspunkte und damit auch Einstiegsmöglichkeiten. Mittlerweile habe ich ein Netzwerk, am Anfang musste ich mich jedoch auch durch Nebenjobs über Wasser halten.

Wo findest du die Energie, um deine Batterien wieder aufzuladen?

Ich habe sehr wenig Möglichkeiten, abzuschalten. Das ist kein 9to5 Job, morgens bis abends mindestens 6 Tage die Woche. Da bleibt wenig Zeit für die Familie. Zum Glück hat mein Mann einen ähnlichen Job und ein grosses Verständnis, wenn ich 200 Tag im Jahr unterwegs bin und „aus dem Koffer lebe“. Was mir Energie gibt, sind die Momente, wo ich meine Arbeiten dem Publikum zeigen kann. An einem Ort wie hier und dann auch wieder neue Inspirationen mitnehmen darf.

Deine Projekte brechen oft eine vermeintliche Harmonie auf – bist du kein Harmonie-liebender Mensch?

Das „Aufbrechen von Raum“ ist ein wiederkehrendes Thema in meinen Arbeiten. Am Anfang ging es drum den „Stadtraum“ aufzubrechen, später auch neuen Raum zu schaffen, welchen ich wiederum aufbrechen kann. Wenn ich mit Menschen zusammenarbeite, bin ich sehr harmoniebedürftig. Als Choreografin, bei der Arbeit mit Tänzer*innen, ist es mir wichtig ein positives Klima zu schaffen. Als Künstlerin ist es sehr oft ein Taumeln zwischen Erfolg und weniger erfolgreichen Phasen. Eine sogenannte Harmonie gibt es wahrscheinlich nie, das Pendel schwingt von Mega Stress zu weniger Stress – ich arbeite daran, wie ich diese Extremen auf die Dauer aushalten kann.

Die Verbindung zur Schönheit mit einer Hoffnung auf ein besseres Leben und somit Erfolg nimmt in Südkorea verzerrte Formen an.

Anna Anderegg
Recherche-Foto, Hope/Me. | Photo © by Photographer Milica Slacanin

Seit dem Frühjahr 2023 arbeitest du an deinem Solo mit dem Arbeitstitel „Hope/Me“, indem du dich mit der digitalen Repräsentation des Körpers und dem Thema Schönheit auseinandersetzt. Die Aktualität und Verbindung zur Gesellschaft in Korea, wo das Posen in den Sozialen Medien einen immensen Stellenwert einnimmt, könnte nicht augenfälliger sein. Ist das so?

Obwohl das Thema auch in der Schweiz oder in Deutschland omnipräsent ist, hier in Korea ist Schönheit – K-Beauty – nochmals auf einem anderen Level. Die Verbindung zur Schönheit mit einer Hoffnung auf ein besseres Leben und somit Erfolg nimmt in Südkorea verzerrte Formen an. Ganz speziell beim weiblichen Körper gibt es viele Anforderungen, wie er sein sollte, wie er auszusehen hat. Bereits in früheren Arbeiten hat mich das Gegenüberstellen von einer digitalen Idealvorstellung eines Körpers und realen physischen Körpern fasziniert. Dies zu hinterfragen und zu schauen, was daraus wird, ist spannend. Hinter diesen Themen verbergen sich mehrere Jahre Recherchetätigkeit, unterwegs entdecke ich neue Aspekte, finde faszinierende Sub-Themen und treffe spannende Menschen. Beim Solo Hope/Me arbeite ich erneut mit dem koreanischen Filmschaffenden Swan Park zusammen, das Filmmaterial wird hier vor Ort gedreht werden. Das Bühnenbild besteht aus mehreren Bildschirmen, lässt sich verwandeln und fragmentieren. Das Solo entsteht in Zusammenarbeit mit unterschiedlichen Kulturschaffenden.

Wir sind gespannt auf dein neustes Projekt Hope/Me – Danke für das Gespräch.

Anna Anderegg | Photo © by Photographer Julija Goyd

Anna Anderegg, (38 ) ist eine Schweizer Choreagrafin, welche in Bern (Schweiz), Montpellier (Frankreich) und Berlin (Deutschland) Tanz studierte. Ihre Praxis basiert auf dem Dialog zwischen dem menschlichen Körper und deren Umgebung. Ihre Arbeiten werden in den wichtigsten Metropolen Europas, Asien und Amerika gezeigt.

Das Solo-Projekt Hope/Me wird im Sommer 2023 am TOBS (THEATER ORCHESTER BIEL SOLOTHURN) uraufgeführt. Im September 2023 wird Anna Anderegg Hope/Me unter anderem auch während der FRIEZE im SongEun Museum in Seoul präsentieren.  
 
«Alone Togehter» ist ein performatives Stück und ein Film. Es wurde auf der Gwangju-Biennale, Südkorea im April 2021 uraufgeführt. Das Werk wurde mit einem Team von Künstlern aus Europa und Südkorea erarbeitet. Awarded Nomination by Ars Electronica S+T+ARTS’22.
 

Claudia Toenz

SEOUL | Korea

Claudia weiss, wie der Hase reist: Jahrelang als Beraterin tätig, hat sie diverse globale Projekte in den unterschiedlichsten Ländern geleitet. Stillstand meidet sie, im Wandel findet sie die Konstante, in der Natur die Ruhe, in Kunst und Kultur die Inspiration. In Südkorea ist ihr ans Herz gewachsen, Freundschaften und bereits das zweite startup lassen nie Langeweile aufkommen.

Schreibe einen Kommentar

Your email address will not be published.


Der Zeitraum für die reCAPTCHA-Überprüfung ist abgelaufen. Bitte laden Sie die Seite neu.