On y go 오니고

Warum der Job als Essenskurrier eine gesellschaftliche Herausforderung ist und uns alle betrifft. Der Fotograf Noah Han 한노아 erlebt das täglich hautnah und dokumentiert es fotografisch.

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Meine Neugierde und Spontanität lässt mich immer wieder interessante Menschen treffen, so auch spannende Fotografen und andere Künstler. Vor einigen Wochen zum Beispiel, als ich in einer Fotogalerie Bilder betrachtete, welche mich an meinen Alltag erinnern. Es sind Fotografien von Essenskurrieren auf zwei Rädern. Menschen, denen ich täglich auf der Strasse begegne. Situationen, in denen ich mich leider allzu oft aufregen muss. Bin ich mit meinem Auto in Seoul unterwegs, kommt es immer wieder mal vor, dass die Essenskurriere Autos bei ihren riskanten Manövern streifen, bei Rotlicht über die Strasse rauschen oder gar einen Weg blockieren. Auch zuhause vor dem Fahrstuhl beobachte ich sie immer öfters. Da stehen sie, ausgerüstet mit zwei bis drei Smartphones, in der einen, die Lieferung in der anderen Hand. Gemeinsam im Fahrstuhl erkenne ich dann sehr rasch, wer in welchem Stockwerk Fried Chicken mit Cola bestellt hat. Besonders befremdend ist, wenn sich Leute ihren Café Latte nach Hause liefern. Ich frage mich dann öfters, in welcher Welt leben wir eigentlich?

Besonders befremdend ist, wenn sich Leute ihren Café Latte nach Hause liefern lassen. Ich frage mich dann öfters, in welcher Welt leben wir eigentlich?

Daniel Thomas Faller

Heute habe ich die Chance genutzt, mich mit dem koreanischen Fotografen und Lebenskünstler Noah Han 한노아 (32) zu unterhalten, welcher „in dieser Welt lebt“ und sie fotografisch dokumentiert.

Wie bist Du zur Fotografie gekommen?

Eines Morgens habe ich realisiert, dass Zeit, Raum und der Ort für mich eine wichtige Rolle spielen. Als Kind der 90-er Jahre, bin ich in der Finanzkriese von Südkorea, der grössten Rezession in der Nachkriegszeit, aufgewachsen. Bis zu meinen 30. Lebensjahr habe ich mehr als 50-mal mein zu Hause gewechselt. Der ständige Neuanfang hat mich dazu bewogen, meine Leben und meine Umwelt fotografisch zu dokumentieren.

On y go, 2021 | © by Photographer Noah Han 한노아

Deine Umwelt hast Du mit einem extremen Weitwinkel Objektiv“ eingefangen. Du bist mit dem Motorrad von Seoul nach London gefahren. Wie kam es dazu?

Es war eines meiner ersten Projekte. Ich wollte die Welt erkunden und bin mit meinem Motorrad 2016 nach London gefahren. Während meiner Reise – sie dauerte drei Jahre – habe ich viele Länder, Menschen und Kulturen kennengelernt. Zu dieser Zeit habe ich meine Eindrücke und Erlebnisse mit einer Digitalkamera festgehalten.

Die Digitalkamera kommt heute nicht mehr zum Einsatz?

Nach meiner Rückkehr war ich für kurze Zeit im Bereich der kommerziellen Fotografie tätig. Damit konnte ich mich jedoch nicht immer identifizieren. Man macht an einem Tag hunderte von Aufnahmen, welche man anschliessend auf nur zwei, drei Bilder reduzieren muss. Dieser Umstand hat mich zum Nachdenken bewogen. Hinzu kommt, dass Covid-19 mein Leben komplett verändert hat. Nur dank eines Zweitjobs als „Essenskurrier auf zwei Rädern“, kann ich mich über Wasser halten.

On y go, 2021 | © by Photographer Noah Han 한노아
On y go, 2021 | © by Photographer Noah Han 한노아
On y go, 2021 | © by Photographer Noah Han 한노아
On y go, 2021 | © by Photographer Noah Han 한노아

Was war deine Motivation, deinen Job als Essenskurrier fotografisch zu dokumentieren?

Bevor ich angefangen habe, als Essenskurrier zu arbeitete, habe auch ich – wie fast alle Koreaner – mein Essen online bestellt. Ich machte mir bis zu diesem Zeitpunkt keine Gedanken, wer diese Menschen sind, welche tagtäglich ihr Leben aufs Spiel setzen, nur um ein Mittagessen oder einen Kaffee, in möglichst kurzer Zeit, den Kunden auszuliefern, bei jeder Witterung, Tag und Nacht. Seit ich jedoch diesen Job selbst ausübe, habe ich ein vollständig anderes Bild von diesen Menschen: Das wollte ich unbedingt dokumentieren.

Was bedeutet On y go?

On y go ist ein französischer Begriff. Er wird aus den Worten on y va (französisch) und let’s go (englisch) zusammengesetzt. Diese Aussage habe ich in Strasbourg während meiner Reise von Seoul nach London „aufgeschnappt“.

Es ist nicht das Problem der Essenlieferanten, es ist ein gesellschaftliches Problem, was alle uns angeht.

Noah Han 한노아

Was willst Du mit dem Projekt On y go zum Ausdruck bringen?

Ich möchte auf eine Kultur aufmerksam machen, welche sich – meiner Meinung nach – in eine befremdende Richtung bewegt. Die KI (Künstliche Intelligenz) hat sicherlich seine guten Seiten. Im Bereich der Essenslieferungs stimmt dies jedoch meiner Meinung nach schon lange nicht mehr. Mit dem Projekt „On y go möchte ich anderen Menschen zeigen, was es heisst, wenn man als Essenskurrier, für ein paar wenige Dollar pro Auftrag, arbeiten muss. Als Kurier hat man hat keinen direkten Kontakt zu den Kunden, pendelt zwischen Lieferdienst und Haustür und ist fast immer auf sich allein gestellt. Der Ablauf ist immer der gleiche und wird von künstlicher Intelligenz und Algorithmen dominiert.

On y go, 2021 | © by Photographer Noah Han 한노아
On y go, 2021 | © by Photographer Noah Han 한노아

Wie funktioniert es, analog zu fotografieren in dieser hektischen Arbeitswelt?

Es war ein bewusster Entscheid, das Projekt analog zu realisieren. Für mich war es wichtig, die Momente bewusst festzuhalten. Auch als Gegentrend zu den Essenlieferungen, bei denen Hektik zum Alltag gehört. Mit den Fotos will das Thema aus gesunder Distanz zeigen, objektiv bleiben und nicht nur die negativen Seiten darstellen. Zudem will ich die Würde der Leute bewahren. Und ich habe mich bewusst für die schwarzweiss Fotografie entschieden.

On y go, 2021 | © by Photographer Noah Han 한노아

Was waren die Reaktionen auf deine Ausstellung?

Es kamen sehr viele Rückmeldungen. Viele Menschen haben einen Kommentar auf meinem Naverblog hinterlassen. Zu 95% allerdings waren diese Rückmeldungen negativ. Viele sind der Meinung, ich solle froh sein, dass ich überhaupt einen Job als Essenslieferant habe. Ich würde für diesen Job bezahlt und hätte nicht zu reklamieren. Viele waren auch der Meinung, ich müsse ja diesen Job nicht machen. Das sei ganz und allein meine Entscheidung. Viele dieser Kommentare machen mich traurig und nachdenklich. Es ist nicht das Problem der Essenlieferanten, es ist ein gesellschaftliches Problem, was alle uns angeht. Und dies wiederum motiviert mich, umso mehr über dieses Thema transparent zu dokumentieren.

Wer noch mehr über das Leben eines Essenskurriers erfahren will, findet unter der Rubrik “PEOPLE – Essenskurier in Korea – bald Geschichte?” einen weiteren interessanten Artikel.

Photographer Noah Han 한노아 | © by Photographer Noah Han 한노아

Noah Han 한노아 wurde 1989 in Gwangju geboren. Seine Schuljahre verbrachte er in Gwangju. Die Fotografie hat er sich selbst beigebracht. Seine erste Soloausstellung hatte er 2013 in der ART-C-Gallery in Seoul, bei welcher er Skateboard culture dokumentierte. Han Noha lebt und arbeitet in Korea.

Daniel Thomas Faller

SEOUL | Korea

Daniel ist der Gründer des Schauplatz Korea Magazins, Chefredakteur und kreativer Leiter. Er ist gebürtiger Schweizer und Korea-Liebhaber, der in Seoul lebt. Daniel interessiert sich für die Geschichten und Projekte von Menschen und hat eine Leidenschaft für visuelle Kunst und Fotografie. Gerne lässt er sich von Makgeolli verführen...

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