Memento mori

Wie Menschen und ihre Emotionen mit einer einzigen fotografischen Arbeit kommunizieren können. Wir treffen den koreanischen Fotografen Jung Lyel Ahn.

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In Südkorea gibt es über 35‘000 historische Grabstätten, die sogenannten Dolmen. Der ehemalige Physiklehrer, Fotograf und langjährige Freund Jung Lyel Ahn berichtet von den Anfängen seiner Fotografie und der Faszination für Dolmen.

Jung Lyel, was fasziniert dich an der Fotografie? Der philosophische Gedanke beim Fotografieren?

Es gibt so viele Gefühle, die man mit Fotos zum Ausdruck bringen kann.  Darüber hinaus ist die Fotografie eine Momentaufnahme eines Ereignis, die viele neugierig macht. Besonders fasziniert mich, dass man mit Bildern die eigenen Gedanken und die Philosophie zum Ausdruck bringen kann. So bin ich davon überzeugt, dass Fotografen, die sich der Kunstfotografie widmen, die öffentlichen Belange der gegenwärtigen Ära und die Belange der Wiederherstellung eines bestimmten Teils des Paradigmas verschiedener Aspekte der kommenden Zukunft verfolgen müssen.

Du hast dir das Fotografieren selber beigebracht?

Bis zu einem gewissen Punkt ja. Während meiner Zeit als Lehrer für Naturwissenschaften, habe ich einige Fachbücher geschrieben, welche Referenzmaterial benötigten. Wissenschaftliche Standardwerke – Lehrbücher erfordern augenfällige Fotos. Ich erstellte und bearbeitete fast alle Bilder, die ich für meine Büchern benötigte, selbst. Erstaunlicherweise kam das Bildmaterial bei den Verlegern sehr gut an. Ich habe dann mehr und Zeit mit der Kamera verbracht. Dabei habe ich erkannt, dass ich meine Gedanken mit Fotos zum Ausdruck bringen kann. Von da an wurde das Fotografieren für mich eine neue Herausforderung. Um meinen Durst nach Kunst und Wissen zu stillen, begann ich ein dreijähriges Studium für Kunstfotografie am Hanmi Museum of Photography in Seoul. Während dieser Zeit hat mir mein damaliger Professor, Choi Bong-rum (Direktor des Korea Photo Culture Research Institute und wohl einer der bedeutendsten Fotokritiker in Korea), die Augen für professionelle Fotografie geöffnet.

Am bedrohlichsten waren die Wildschweine, welchen ich manchmal im dunklen Wald unfreiwillig begegnete…

Jung Lyel Ahn

Kannst du uns etwas über deine ersten Fotoprojekte erzählen?

In der Anfangszeit habe ich hauptsächlich Sterne fotografiert. Ich war noch als Lehrer für Naturwissenschaften tätig und unterrichtete tagsüber, und ging nachts hinaus, um die Sterne zu fotografieren. Ich fühlte mich zufrieden und glücklich, sobald ich in die Berge fuhr. Ich wanderte viel herum, um Fotos aufzunehmen. Dabei stieg mein Adrenalin-Pegel, so dass ich die Müdigkeit vergas. Während meiner nächtlichen Aufnahmen für das Projekt „Starry Night Sky – einem sternenklaren Nachthimmel – stieß ich zufällig auf einen Dolmen. Dies war der Auslöser für ein neues Projekt.

Trees on island in lake, 2014 | © by Photographer Jung Lyel Ahn

Was war besonders schwierig, als du die „Starry Night Sky“-Fotos gemacht hast?

Das Hauptthema von ‚Starry Night Sky‘ ist die Sternenfotografie. Um optimale Lichtverhältnisse vorzufinden, musste ich aus der Stadt heraus und einen geeigneten Ort in den Bergregionen finden. Dies war nicht immer einfach: Der dunkle Wald ist sehr anspruchsvoll. Man kann sich darin leicht verirren und oft hatte ich Angst. Am bedrohlichsten waren die Wildschweine, welchen ich manchmal im dunklen Wald unfreiwillig begegnete…

Aus verschiedenen Gesprächen, die wir geführt haben, weiss ich, dass du viel Zeit in der Gegend der „Rabbit Island“ verbringst. Dort entstehen viele Fotos mit einer sehr beruhigenden Wirkung von der Insel und den Bäumen, die sich im See spiegeln. Wie kam es dazu, dass du diesen besonderen Ort gewählt hast?

Dieser Ort ist nicht weit weg von meinem Wohnort entfernt und eignete sich ausgezeichnet, um meine Fertigkeiten in der Fotografie zu verbessern. In der ruhigen Morgendämmerung nimmt der Wellengang ab, und die Reflexionen im Wasser sind wunderbar. Wenn die Temperatur in den Morgenstunden steigt, erhebt sich der Nebel über dem See, was fast schon mystisch aussieht. In gewisser Weise ist es auch ein Ort, der das Gefühl von Michael Kennas Werk „pine trees'“ vermittelt. Es war mir wichtig, dass ich regelmässig fotografiere und so komme ich seit 2014 zweimal pro Monat an diesen Ort zurück, wo ich meine Projektarbeiten weiterführe. Die Sonne und der Mond sind meine Wegweiser für jede Jahreszeit. Da ich meine Fotos immer von der gleichen Position aus mache, habe ich mir eine Vorrichtung aus Zement gebaut, auf die ich mein Stativ jeweils montieren kann.

Wie hat deine Familie auf das Projekt “ Trees on iland in lake “ reagiert? Hat deine Familie Dich regelmäßig beim Fotografieren begleitet?

Meine Frau begleitet mich oft. Sie ist die Muse meiner fotografischen Arbeit, motiviert mich, gibt mir Rückmeldungen und ermutigt mich, Neues zu wagen. Dafür bin ich ihr sehr dankbar. Für uns ist dieser Ort und das Projekt aber auch eine Art von Entspannung und wir fühlen uns in dieser Umgebung der Natur sehr wohl. Oft habe ich das Gefühl, dass ich in meiner Heimat angekommen bin.

Wie bereitest du dich auf die einzelnen Fotoprojekte vor?

Eine richtige Vorbereitung ist enorm wichtig. Bei einigen Projekten bin ich allein unterwegs. Dann packe ich meinen Rucksack mit Kaffee, anderen Getränken und Früchten, genauso wie für ein Picknick. Beim Fotografieren habe ich eine Routine. Wenn ich am geplanten Standort ankomme (in diesem Fall die Insel), ist es mindestens eine halbe Stunde vor Sonnenaufgang. Dies erlaubt mir, in Ruhe mein Stativ aufzustellen und mich zu installieren. Es folgen Probeaufnahmen. Wenn die technischen Vorarbeiten abgeschlossen sind, braucht es viel Geduld, doch irgendwann kommt der richtige Zeitpunkt, an dem die Sonne sich im Wasser spiegelt und der Nebel im richtigen Licht steht.

Gochang Dolmen, 2017 | © by Photographer Jung Lyel Ahn
Ganghwa Dolmen, 2017 | © by Photographer Jung Lyel Ahn

Was hat dich dazu bewogen, das Projekt „Ancient Messages“ zu starten?

Es begann zufällig. In einer Nacht, in der ich mich in die Sternenfotografie vertieft hatte und verschiedene Motive für ein Bild suchte, fotografierte ich versehentlich einen Dolmen. Ich unterbrach meine Arbeit und war nur noch auf den Dolmen fixiert. Dieser große Stein, ein Grab eines alten Volkes, in dem das über die Jahre abgestrahlten Sternenlicht auf dem Dolmen erblühte , ließ mich vor Aufregung erschaudern. Von da an ging ich auf die Suche nach dem Geheimnis der Dolmen. Ich tauchte in die Thematik der Dolmen ein und entdeckte, dass es unter jedem Dolmen unzählige Geschichten gab. Jeder Dolmen, den ich besuchte und fotografierte, vermittelte mir eine unausgesprochene Botschaft. Also machte ich mich auf die Suche nach den wichtigsten Regionen, in denen es Dolmen gibt, um ihre die verschiedenen Formen fotografisch festzuhalten.

Wie reagieren die Menschen, wenn sie deine Fotobilder bei Ancient Messages betrachten?

Auf die Dolmen Bilder gibt es einige Reaktionen. Es gibt jedoch zwei Geschichten, welche mir besonders in Erinnerung geblieben sind.

An einer meiner Ausstellungen beobachtete einen Besucher, der lange vor dem Bild mit dem Ganghwa Dolmen stehen blieb. Ich bin langsam auf den Mann zugegangen und wollte mich nach seinen Gefühlen erkundigen. Doch dazu kam es nicht. Ich stelle mich neben ihn und realisierte dann, dass der alte Mann weinte, während er mein Kunstwerk betrachtete. Später, als ich den Mann nochmals sah, wollte ich von ihm wissen, welche Gefühle das Dolmen Bild bei ihm ausgelöst hatte. Mit ruhiger, belegter Stimme erklärte er mir, dass ihm beim Betrachten des Bildes ein „memento mori“ (erinnere dich, dass du sterben musst) erfuhr. Ein Schauern durchfuhr meinen Körper und ich realisierte, dass auch ich oft ein solches Gefühl hatte, wenn ich an dieser Fotografie arbeitete. Da war sie also die Empathie. Ein Gefühl, bei welchem Menschen und ihre Emotionen mit einer einzigen fotografischen Arbeit miteinander kommunizieren können. Das war sehr eindrücklich.

An einer anderen Ausstellung kam ein berühmter koreanischer Dichter, Chae Hyeon-byeong auf mich zu. Er betrachtete meine Bilder sehr genau und schrieb folgendes Gedicht:

강산에 드셨던가
반도에 납셨던가
드넓은 대지위에
고인돌 얹어놓고
영생을 구가하시니
그 틈새가 좁아라

Warst du auf den Bergen
Oder warst du auf der Halbinsel
Auf dem riesigen Erdboden
Stellst du Dolmen auf
So führst du ein ewiges Leben
Da sieht die Kluft so klein aus

Ich werde dieses Gedicht nie vergessen, da es symbolisch zu meiner Arbeit passt.

„Verbrannter Kürbis“ – das neue Projekt | © by Photographer Jung Lyel Ahn

Welche philosophischen Fragen wirst du als nächstes visuell umsetzen?

„Wandel und Wesen“. Alle Dinge haben Geburt und Tod zur Folge. Dazwischen liegt die „Existenz“, der Gipfel aller philosophischen Themen. Veränderungen sind dem Fluss des ontologischen Lebens inne. Und es wird eine einzigartige Essenz geben, die sich inmitten dieser Veränderungen nicht verändert. In meinem nächsten Projekt „Stillleben“ gehe ich auf eine Reise, auf der ich darüber nachdenke, was die Essenz des Lebens ist und welchen Wert die Essenz hat.

Der Fotograf Jung Lyel Ahn, Seoul

Jung Lyel Ahn ist 1962 in Daegu geboren. Er war von 1989 bis 2019 Lehrer für Naturwissenschaften (Physik) und studierte Kunstfotografie am Hanmi Museum of Photography in Seoul. Seit 2016 stellt er regelmäßig seine Bilder in Museen und Gallerien aus. Ahn ist verheiratet, hat eine Tochter und einen Sohn und lebt in Seoul.


Daniel Thomas Faller

SEOUL | Korea

Daniel ist der Gründer des Schauplatz Korea Magazins, Chefredakteur und kreativer Leiter. Er ist gebürtiger Schweizer und Korea-Liebhaber, der in Seoul lebt. Daniel interessiert sich für die Geschichten und Projekte von Menschen und hat eine Leidenschaft für visuelle Kunst und Fotografie. Gerne lässt er sich von Makgeolli verführen...

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